Jahr der Freiwilligkeit 2011, Flucht-Thematik 2015 und CoVid 2020: Wie erreicht man online Freiwillige?
Ehrenamtsbörsen sind keine Jobbörsen
Wer sich ehrenamtlich engagiert, hat andere Ansprüche als jemand, der Karriere machen möchte. Es gibt aber auch Parallelität in diesen beiden Bereichen. Die erfolgreiche Vermarktung von Freiwilligen-Börsen oder Ehrenamtsbörsen hat viele Facetten. Die Hauptanwender solcher Freiwilligenbörsen müssen auf eine starke Meta-Ebene gelangen um den richtigen Blick auf das Thema zu finden.
Wer freiwillige, engagierte Bürgerinnen und Bürger sucht, muss vor allem die Innensicht bestehender Freiwilligenorganisationen für sich selbst effektiv überwinden. Das größte Potenzial besteht nicht bei jenen Menschen, die in den Organisationen ohnehin schon bekannt sind. Das ist einer der gefährlichsten Irrtümer, die eine Freiwilligenbörse kalt stellen können.
Potenzial abseits derer, die schon hier sind...
Wichtig an der Vermarktung einer Freiwilligenbörse ist - das ist auch mit der Jobbörse identisch - dass man sich von der Zielgruppe her an jene wendet, die eben noch nicht engagiert sind. Auch die meisten Jobbörsen wenden sich an Menschen, die eine Arbeit suchen, anders muss man schließlich auch im Headhunting herangehen, wenn man Menschen erreichen will, die bereits Arbeit haben. Dabei nimmt aber dann einem Betrieb einem anderen Betrieb einen Mitarbeiter weg. Das mag in einer kompetitiven Wirtschaft selbstverständlich so vorkommen, hat aber - gesamtheitlich betrachtet - im Bereich Ehrenamt und Freiwilligkeit wenig bis gar keinen Sinn. Diese Rolle wäre also nur jene von Organisationen im Freiwilligenbereich, deren Ziel es ist, anderen Organisationen im Freiwilligenbereich die freiwilligen Helferinnen und Helfer wegzunehmen.
Gesamtheitliche Betrachtung: Zielgruppe ausweiten...
Um das aber aus einer Vogelperspektive auf das ganze System zu betrachten, muss man sich aus dem Konkurrenzverhältnis zwischen Organisationen, die Freiwillige suchen, heraushalten. Das Setup einer Freiwilligenbörse ist, wenn sie glaubwürdig sein soll, natürlich auch daran gebunden, dass sie von mehreren Organisationen genutzt wird. Das ist schließlich bei normalen Jobbörsen auch so, wenn es nur die Karriereseite eines Arbeitgebers ist, ist die Wahrnehmung ganz anders und auch die Zielgruppe völlig anders. Viele Organisationen haben auch einen eigenen Bereich für Freiwillige und Ehrenamt auf ihrer Webseite, dieser Seite muss man mit einer Freiwilligenbörse keine Konkurrenz machen.
Gruppe 1: Die bereitwilligen Helfer
Es geht beim erfolgreichen Marketing für Freiwilligenbörsen also um die Betrachtung der Zielgruppe. Diese Zielgruppe befindet sich in der Glockengrafik aber nicht in den obersten 10 % der ansprechbaren Personen, denn wer bereits aus Überzeugung ehrenamtlich Tätig ist oder ehrenamtlich immer schon tätig sein will, hat entweder bereits eine Aufgabe in einer Organisation gefunden oder gehört zu jenen Charakteren, die man in einer Freiwilligenorganisation eher fürchtet. Beide Möglichkeiten sind auch nicht die Zielgruppe einer Freiwilligenbörse im Netz.
Gruppe 2: Die Totalverweigerer
Auch das Gegenteil der ersten Gruppe ist für eine Freiwilligenbörse unerreichbar. Menschen, die die Einstellung in sich tragen, dass sie prinzipiell nur dann etwas auf der Welt tun wollen, wenn sie einen absoluten persönlichen Vorteil - zumeist im monetären Sinn - davon haben und es ihnen eigentlich nicht wichtig ist, ob jemand anderer auch einen Vorteil hat, sind für eine Freiwilligenbörse auch nicht zu gewinnen. Diese Zielgruppe unserer quasi "untersten 10 %" im Engagement-Level ist somit ebenfalls von der Freiwilligenbörse zu streichen, denn eine Webseite leistet keine Überzeugungsarbeit, sie führt möglicherweise Menschen zu einem Ergebnis, die für dieses Ergebnis offen sind. Sie kann aber nicht jemanden "umpolen".
Gruppe 3: Die In-Betracht-Zieher
Die spannende Gruppe für eine Freiwilligenbörse, und so spielt sich auch der Markt dafür ab, sind jene in der Mitte, und zwar - spannenderweise - in der unteren Mitte, also näher an der zweiten Gruppe als an der ersten Gruppe dran. Dort, wo in der Artikel-Grafik der weiße Spann-Pfeil ist, also etwa beim 2. und 3. Fünftel der Spannweite zwischen den Gruppen 2 und 1. Eben näher an der Gruppe 2 der Totalverweigerer dran, als an den ohnehin für ehrenamtliches Engagement sehr empfänglichen Menschen.
Denn: Wer im Mittelbau zum oberen Ende gehört hat typischerweise auch schon mehr Informationen und überlegt sich ohnehin sich konkret für eine bestimmte Organisation, die inhaltich oder von der Positionierung oder dem Thema her zusagt, zu engagieren. Das "untere Segment" dieser Gruppe, das überraschend groß ist, wenn man unsere Marktbefragungen ansieht, ist das spannende Segment einer unabhängigen oder übergeordneten Freiwilligenbörse im Netz. (So wird volunteer.life, die Freiwilligen-Börse-Systematik von echonet auch meistens eingesetzt.) Wenn also beispielsweise der Betreiber eine Plattform von Organisationen oder überhaupt die öffentliche Hand ist, die Börse also nicht einer bestimmten Organisation / NGO gehört. Das ist die typische Anwendung von volunteer.life.
Was ist für die wichtigste Zielgruppe wichtig?
Jene, die man auf einer Online-Freiwilligenbörse gewinnen kann sind die Pragmatiker. Es ist nicht ihre Überzeugung ihren Lebenssinn im freiwilligen Engagement zu finden. Sie zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie sich vom freiwilligen Engagement eine persönliche Anerkennung erhoffen und schon gar nicht, dass dieses Engagement zur Basis für neue (oder überhaupt) Sozialkontakte wird. Die Herangehensweise dieser Zielgruppe ist ganz einfach.
Ich helfe, weil es ein Problem gibt und ich glaube, dass ich da helfen kann.
Dieses angesprochene Problem betrifft ein Land, die Bevölkerung, eine bestimmte Region oder ein bestimmtes Thema. Ein Hochwasser, ein Erdbeben oder auch menschliche Tragödien, von denen diese Zielgruppe aus den Medien / Nachrichten erfahren hat. Und die angesprochene Zielgruppe, die eigentlich auch ganz gerne mal am Abend einfach Vergnügen hätte, Ausgehen würde... sieht für sich selbst ein, dass es da wohl einfach Hilfe braucht und dass man eben jetzt helfen muss.
Ist das Problem aber vorbei, möchte die Zielgruppe wieder ihrem normalen Lebenswandel nachgehen! Und hier wird es wichtig: Die Angst, dass klassische Freiwilligenorganisationen eine ehrenamtlich engagierte Person vereinnahmen ist groß. Sie ist so groß, dass es viele Menschen gibt, die sich - obwohl sie könnten und es eigentlich als sinnvoll erachten würden - nicht engagieren um nicht dann letztlich im Unguten sich davon wieder trennen zu müssen, weil man nicht bereit ist, mehr zu machen, als man einfach möchte.
Hier setzt eine Freiwilligenbörse, die zum Erfolg führen soll, auch an. Sie bietet den Nutzern jedenfalls das Gefühl alles unter Kontrolle zu haben, selbst festlegen zu können, wann, wie oft, an welchen Tagen, wie viele Stunden etc. man sich engagieren möchte. Dieser erste - emotional wichtige - Einstieg ist bei den Freiwilligen-Organisationen sehr unbeliebt, aber bei der Zielgruppe mit dem größten Potenzial enorm wichtig.
Sehr kompetent und an der Zielgruppe vorbei...
Im konkreten Anwendungsfall für Freiwilligenbörsen ist es nicht leicht das Setup so zu behalten, wie es für die tatsächliche Zielgruppe mit dem größten Potenzial richtig wäre. Denn zumeist sind in der Entstehung solcher Börsen jene Menschen befasst, die in Organisationen sich intensiv mit Freiwilligentätigkeit und Ehrenamt beschäftigen. Ihre Sichtweise auf die Dinge ist klar, nachvollziehbar und konkret und auch richtig. Noch viel mehr aber geht sie an der Zielgruppe vorbei. Denn naturgemäß geht jemand, der in einer solchen Organisation tätig ist, davon aus, dass die tägliche Erfahrung mit freiwilligen Helferinnen und Helfern und die Erfahrung aus dem Recruiting der ehrenamtlichen Mitarbeiter innerhalb der Organisation eben auch die tatsächliche Vorgehensweise, also eigentlich die "Norm", ist.
Wer also hier engagiert ist und in einer solchen Organisation arbeitet, hat einen breiten Erfahrungsschatz, weiß meistens sehr genau über die Charaktere der Gruppe 1 - siehe oben - bescheid und kennt auch jene, die solche Aufgaben aus nicht ehrenhaften Motiven wahrnehmen. Gemeint sind hier jene Personen, die man als Organisation eigentlich hofft gar nicht bei sich zu haben. Personen also, die versuchen sich über ein ehrenamtliches Engagment in der Gemeinschaft / Gesellschaft unglaublich wichtig zu machen und ihr gesamtes soziales Leben überhaupt erst dort aufbauen wollen. Kurz gesagt: Ehrenamtliche Helfer, denen die Anerkennung wichtiger ist als das Ergebnis. Ein guter Freiwilligenbeauftrager in einer größeren Organisation erkennt solche Menschen bereits kilometerweit gegen den Wind.
Aber wer sich mit diesen Personen - also der ganze Gruppe 1, den "Erwünschten" und den "Nicht so ganz wirklich Erwünschten", tagtäglich beschäftigt und diese Zielgruppe für die "Norm" hält, kann von sich aus gar nicht wirklich auf den großen Mittelbau eingehen, wo das eigentliche Potenzial - vor allem für kurzfristige Einsätze in Katastrophenfällen - liegt. Egal ob es dabei um die Fluchtbewegung vor dem Krieg im Nahen Osten im Jahr 2015, um Hochwasser-Katastrophen, Erdbeben oder auch um die globale Pandemie durch den Corona-Virus wie 2019/2020 geht. Die Menschen, die sich über eine Freiwilligenbörse in solchen Fällen rekrutieren lassen, wollen nachdem das Problem aus der Welt ist, wieder ihren normalen Lebensweg gehen und haben nicht den Wunsch dauerhaft und vollständig in solchen Organisationen ehrenamtlich tätig zu sein. Sie helfen danach vielleicht auch noch das eine oder andere Mal aus, sie kommen möglicherweise auf den Geschmack, aber sie wollen in jedem Fall darüber die Kontrolle behalten.
Wichtiger Faktor: Kontrolle
Damit ist klar, dass die Zielgruppe einer Online-Freiwilligenbörse nicht den Personen entspricht, die ohnehin schon fünf Organisationen kontaktiert haben. Die Zielgruppe braucht das Gefühl die Sache unter Kontrolle zu haben und wird sich daher dann wohlfühlen, wenn das auch konkret angeboten wird.
Es ist nur einer von vielen möglichen Wegen, den volunteer.life beschreitet: Die ersten Fragen beziehen sich nicht darauf, was die Organisationen gerne hätten, dass diese Menschen anklicken sollen, sondern darauf, was die Menschen wollen, dass von den Organisationen berücksichtigt wird. Ein guter Indikator dafür ist eben genau der Faktor Zeit. Wie viel will ich tun, wann will ich es tun, welcher Wochentag ist für mich problemlos und welche Tageszeit? Dann habe ich als ehrenamtlich tätiger Mensch auch das Gefühl, die Kontrolle zu behalten.